Marco Berrettini
Contamination
© *MELK PROD. 2011
Coaching Project
Week 2, 25.7.–29.7.2011
10:00–16:00
VOP 1
Contamination
"...und da sind extrem toxische Substanzen drin. Es existiert eine direkte Verbindung zwischen der Dimension eines Autors und der Gefährlichkeit der Materialien die er bearbeitet und die er bändigt. Das Unbedeutende gebärt nur Unbedeutendes, die Gefahr gebärt den Geist, das Denken, und wenn der Geist an den Punkt angelangt wo es Form fasst, halten wir den Augenblick der Kunst. Jeder Autor, der etwas wert ist, kontaminiert sich selbst mit den Materialien die er behandelt...".
Peter Sloterdijk
Das Coaching Project Contamination möchte durch die Sprache des Tanzes das Thema der Begegnung des Anderen, des Ungewissen behandeln.
Im Zeitalter von Facebook, Twitter und Dating-Websites ließe sich fragen, ob wir nicht schon zu viele, zu oberflächliche und sinnlos detaillierte „Beurteilungskriterien“ der Begegnung mit dem Unbekannten entwickelt haben. Und dies alles bevor wir dem Anderem in die Augen geschaut haben. Und hindern uns diese, im Kopf herumschwirrenden „Curriculum-Vitae-Kriterien“, „Profile“, „Identitäten“ daran, eine kontemplative Haltung angesichts des Unbekannten einzunehmen? Ist Bescheidenheit im Angesicht des Fremden noch möglich? Ist eine wirkliche Sphäre des Intimen noch möglich? Filtern wir nicht ständig die Realität, um unsere eigenen Schwächen zu verhüllen? Wie verarbeitet der Tanz diese neuen sozialen Umstände, Wünsche, Verhaltensmuster? Auf welche Weise kann der Tanz ein Spiegelbild dieser neuen Computer-Generation sein? Und wie stellt sich die Frage der Technik im Tanz, wenn man ihr solche Thematiken entgegenstellt?
Für den/die KünstlerIn, TänzerIn, Performance-Artist ist diese Konfrontation mit sich selbst, mit den dunkelsten Gebieten der eigenen Person ein manchmal schmerzhafter Arbeitsvorgang, aber ein unbedingt notwendiger Prozess um im zeitgenössischen Tanz unserer Zeit „Stellungnahmen“ um nicht zu sagen, „Positionen“ einnehmen zu können.
Der Ausdruck „eintauchen“ scheint mir der adäquateste zu sein, um das Niveau des Engagements für ein solches Coaching Project zu beschreiben. Dies ist mein Wunsch. Ich stelle fest, dass die Tanzszene seit einigen Jahren keine neuen choreografischen, ästhetischen oder ideologischen Stile entwickelt hat. Objektiv eine negative Entwicklung in meinen Augen. Vielleicht, und dies ist sicherlich nur eine Teil-Antwort, haben sich die KünstlerInnen zu sehr von der Alltäglichkeit entfernt, um, wie viele Menschen, Schutz und Trost in der Individualität zu suchen. Meines Erachtens ist es an der Zeit, neue Risiken und Schmerzen auf sich zu nehmen.
Wer „Begegnung“ sagt, sagt auch „Introspektion und Nachdenken über sich selbst“. Und wer über sich selbst reflektiert, muss sich zwangsläufig wieder öffnen. Wer aber dann zu diesem freudigen Ereignis „Ja“ sagt, muss auch „Bitte“ sagen können.
Ich würde gern das Coaching im Tanzstudio beginnen. Übungen, Diskussionen, Schriften und Improvisationen zum Thema „Begegnung“ und „Kontamination“ entwickeln. Dramaturgische Brücken zwischen Leben und Bewegung knüpfen.
Der nächste Schritt wird es sein, die Begegnung mit anderen Menschen des „ImPulsTanz-Campus“ zu suchen; und diese Begegnungen in die Arbeit einfließen zu lassen.
In der letzten Phase werden wir anderen Menschen in der ganzen Stadt begegnen, um neuartige Situationen zu erleben und „über den eigenen Schatten springen“, wie man so schön sagt.
Fremden Menschen zu begegnen ist nie einfach und wir wissen nie wie uns dies verwandeln könnte. Den Schwerpunkt werden wir auf die Beobachtung, die diskrete Neugier, die Geduld und das Verständnis setzen. Gerade dieser „graue“ Bereich zwischen halb-passiver und halb-aktiver Geselligkeit interessiert mich am meisten. Ich suche nicht die Assimilation, die erzwungene Freundschaft, die Zusammenarbeit um jeden Preis. Es geht mehr darum, bei sich selbst zu sein und darüber hinaus, mehr als bei sich selbst. Und darüber nachzudenken, um die Verwandlungen zu verstehen, denn letztendlich sollte es auch in Tanz verwandelt werden.
Dieser Workshop richtet sich zuerst einmal an alle Neugierigen, auch wenn es mir lieber wäre, wenn die potentiellen TeilnehmerInnen Erfahrung im Bereich des Tanzes besitzen. Meine Thematiken sind nicht einfach, glaube ich. Es liegt mir nahe, dass die TeilnehmerInnen nicht Zeit damit verlieren, den erstrebenswerten und interessanten Tanz vom Kitsch, Pathos und allen möglichen Reflexen zu trennen.
Abschließend wäre vielleicht ein öffentlicher „Run-through“ am Ende der Woche eine gute Idee.
Marco Berrettini ist italienischer Tänzer und Choreograf. Sein Interesse für den Tanz fängt 1978 an, als er die deutsche Disco-Meisterschaft gewinnt. Daraufhin entscheidet er, sich technisch weiterzubilden. In den nächsten 3 Jahren wird er Jazz, Modernen und Klassischen Tanzunterricht besuchen. Neben seiner normalen Schulausbildung arbeitet er für die Tanzschule Bier in Wiesbaden, für die er, mit einer 28 Mann starken Truppe, Gala-Abende choreografiert. Dadurch kommt er zum ersten Mal mit den amerikanischen Musical-Filmen in Kontakt, die er intensiv studiert, um eventuelle Tanzszenen mit seiner Formation, nachzustellen.
Nach dem Abitur beginnt er seine Tanzausbildung; zunächst an der London School of Contemporary Dance, um sie dann an der Folkwangschule Essen, unter der Leitung von Hans Züllig und Pina Bausch, abzuschließen. In Essen und Wuppertal entwickelt er sein Interesse für das Tanztheater und choreografiert sein erstes „zeitgenössisches“ Solo: „Der geile Weihnachtsmann“. Die Technik Jooss/Laban bedeutet seither alles für ihn. Und in den nächsten 10 Jahren wird er unter dem starken choreografischen Einfluss Pina Bauschs stehen. Besonders, was die Form angeht, die ihm ausgesprochen frei anmutet. Was den Inhalt der Stücke diverser Tanztheatertruppen wie Pina Bausch, Reinhild Hofmann und anderer angeht, hat er mehr Vorbehalte. Der Generationsunterschied macht sich spürbar.
Sofort nach seiner Tanzausbildung versucht er, in Wiesbaden seine Compagnie aufzubauen. Ohne jeglichen Erfolg, muss man sagen. Rückblickend lässt sich vielleicht erwähnen, dass zu Anfang der 1980er Jahre, unabhängige Tanzcompagnien es eher schwer hatten. Zugegeben, Berrettinis Arbeit war auch nicht die zugänglichste. Neben seinen Versuchen sich als revolutionärer Choreograf einen Namen zu machen, studiert er parallel dazu an der Frankfurter Universität Europäische Ethnologie, Kulturanthropologie und Theaterwissenschaften. Ein paar Jahre lang schlägt sich Berrettini eher schlecht als recht im Tanzbereich durch. Er hätte locker als klassischer Solist oder im Wuppertaler Tanztheater arbeiten können, aber er glaubt fest daran, dass es irgendwann mal klappen wird. Seine Miete zahlt er 3 Jahre lang eher durch gewonnene Backgammon-Spiele als lukrative Theatergagen.
1988 schließt er einen Vertrag mit einer französischen Tanzcompagnie ab. Er ist Deutschlands überdrüssig und erhofft sich in Frankreich mehr Chancen. Diesmal wird er Recht behalten. Neben seiner Tänzer-Arbeit für den Marseiller Choreografen Georges Appaix, schafft er seine eigenen Stücke. Seine Tanzcompagnie hieß damals noch Tanzplantation.
1999 produziert Kampnagel Hamburg sein Werk „MULTI(S)ME“. Seine inzwischen aus 12 TänzerInnen bestehenden Compagnie ändert, einem Vorschlag des damaligen Intendanten Res Bossharts folgend, den Namen. *MELK PROD. ist geboren.
Seither hat Marco Berrettini mit seiner Compagnie mehr als 25 Stücke produziert und mit einigen auch Preise gewonnen, was immer dies auch heißen mag.
Im Dezember 2004 wird „No Paraderan“ im Theatre de la Ville in Paris uraufgeführt. Die Premiere entfacht einen Riesenskandal. In nicht einmal 6 Monaten verliert der Choreograf mehr als die Hälfte seiner Auftritte. Dazu kommt die immer schwerer werdende kultur-finanzielle Lage Frankreichs und anderer EU-Länder. Es ist nicht mehr die Zeit für unabhängige Gruppen. 2 Jahre lang durchlebt die Compagnie eine relativ schwere Krise und verliert 3 seiner Mitglieder. Aber ab 2007 stabilisiert sich die Lage wieder. Sein letztes Stück „*MELK PROD. goes to New Orleans“ (für welches die Compagnie tatsächlich nach New Orleans gereist ist), kommt gut an. Seine Tänzer, der jüngste 26, der älteste 57 Jahre alt, werden mit der Zeit immer besser. Wie guter Rotwein.
Berrettinis Arbeit erstreckt sich von der Performance im Museum bis hin zu Film-Produktionen mit ausländischen Regisseuren. Von Video-Installationen im Palais de Tokio bis hin zu gemeinsamen Abendessen mit berühmten Leuten die ihn nicht kennen. 3 Jahre lang leitet er sogar den Tanzbereich der Hochschule für Theater La Manufacture in Lausanne. Zurzeit erarbeitet die Compagnie das neue Stück „Si, Viaggiare“. Ein Stück für 9 Tänzer die versuchen werden, das Buch „Blasen“ von Peter Sloterdijk in bühnenreifes Material zu verwandeln. Seine beste Kreation ist und bleibt aber seine 6 jährige Tochter Stella, mit der er in Genf lebt.
Marco Berrettini für Marco Berrettini
Das neue Stück „Si, Viaggiare“ wird bei ImPulsTanz 2011 zu sehen sein.
Marco Berrettini