Lynda Gaudreau liebt Bibliotheken. Jedes Mal, wenn sie in eine fremde Stadt kommt, sucht die junge franko-kanadische Choreografin jene Orte der Sammlung von Wissen auf, wo die Spuren der Vergangenheit nur darauf warten, in die Gegenwart zu münden. Als systematische Spurensuche könnte man auch ihre choreografische Arbeit bezeichnen. „Document 1“, der erste Teil ihres auf mehrere Jahre hin angelegten „Enzyklopädie-Projekts“, basiert auf wenigen Bewegungen für Hände, Arme und Beine, getanzt von fünf Tänzern zur Klaviermusik von Rober Racine, der jeder ihrer getanzten „Definitionen“ wie in einem Alphabet eine Note zugeordnet hat. „Document 1“ ist eine Lektüre der elementaren Bestandteile des Körpers und seiner Bewegungsanatomie. In Montréal hat Lynda Gaudreau neben ihrer Ausbildung im klassischen und modernen Tanz auch ein Studium der Kunstgeschichte und Philosophie absolviert. In den Studios von Edouard Locks „LaLaLa Human Steps“ war sie ebenso Artist in Residence wie beim Klapstuk Festival im belgischen Leuven, wo sie zwischen 1992 und 1997 von dem fruchtbaren Austausch zwischen Künstlern und Theoretikern profitierte. „Construction“, „Anatomie“ und „Still Life“ sind die Ergebnisse ihrer Forschungen am Körper, dessen Formen sie wie eine Bildhauerin freilegt.
Anders als Le Quatour Albrecht Knust, die ihre aufgesprengte „Faune“-Erinnerung als Dynamik einer lebendigen tänzerischen Erfahrung in Szene setzen, ist Lynda Gaudreaus Umgang mit der Tanzgeschichte archivarisch. Wie in einem Lexikon sammelt sie Einträge und fügt ihnen Filme, Objekte, Bilder und Zitate anderer Choreografen bei. Sie kompiliert Texte verschiedenartiger Natur, die sie miteinander in einen Dialog setzt. Auf diese Art entsteht eine Struktur von Verflechtungen, ein Gewebe aus Motiven, die ihre Choreografie texturiert und an den Rändern offen hält. Das abgeschlossene Werk, durch Anfang Mitte und Ende ausgezeichnet, weicht einem offenen Text, an den sich andere choreografische Texte anschließen können. Lynda Gaudreaus Verfahren, in der Literaturwissenschaft schon lange als Intertextualität bekannt, wirft für den Tanz neue Fragen auf. An die Stelle eines originären Schöpfer-Genies, das seine Kunst einzig aus der Inspiration schafft, tritt ein Dialog zwischen bereits existierenden Arbeiten. Der Autor, der als einziger für seinen Text verantwortlich zeichnet, wird dabei in frage gestellt. Er weicht einer Pluralität von Stimmen, die aufgrund von Ähnlichkeiten im Material wie von selbst zueinander finden.
So suchen sich Lynda Gaudreaus Bewegungen für Hände, Arme und Füße ihre Partner in einem Videoausschnitt von Jonathan Burrows Choreografie für Hände und dem Anfang von Meg Stuarts Choreografie „No Longer Ready-Made“, einem Solo des Tänzers Benoît Lachambre, das auf rasend schnellen Kopf- und Handbewegungen basiert. Lachambre steuert außerdem ein von ihm geschaffenes Solo für die Hüfte bei. Gaudreau leiht sich Choreografien aus, um auf sie zu antworten. Ihre kleinen, banal und nicht wirkenden Bewegungen, die aufgrund des strikten Reinigungs- und Abtraktionsprozesses, dem sich die Choreografin unterzieht, eine enorme Sinnlichkeit ausstrahlen, findet sie oft im Alltag. Zusammen mit Marlene Millar und Philip Szporer hat sie zwei kurze Videofilme gedreht, die spielende Kinder in einem Park in Montréal und Menschen beim Joggen zeigen – einen Rückverweis auf ihre Quellen, die sie in „Document !“ schonungslos offen legt. Von Daniel Larrieu hat sie sich einen Federball als Bühnenobjekt ausgeliehen, Barbara de Coninck spricht über die Bewegung der Vögel und Jérôme Bel macht einige Bemerkungen über den künstlerischen Schaffensprozess. Ihr Stück, so sagt sie in einem Interview, sei größer als ihre Person. Es sei die Summe aller daran beteiligter Künstler. „Document 1“ ist ein choreografischer Hypertext, in dem die Geschichte mit der Gegenwart verschmilzt.
Spielort:
Sofiensäle I
Termine:
07. August 2000, 21:00
09. August 2000, 21:00
