Performances 2000

Performances 2000

Le Quatuor Albrecht Knust (FR)
… d’ un Faune (éclats)

© Bertrand Prevost

… d’ un Faune (éclats)

Der Titel ist so elliptisch wie das Stück. Vaslav Nijinskys „L’après-midi d’un faune“ – eine Auslassung. Die Formation Le Quatuor Albrecht Knust hat Nijinskys Klassiker der Tanzmoderne in tausend kleine Splitter zerlegt, ohne sie zu einem neuen repräsentativen Bild des Fauns zusammenzufügen. Das Pariser Quartett stellt vielmehr die Existenz „eines“ Fauns infrage, der durch den Skandal, den Nijinskys Choreografie bei der Uraufführung 1912 in Paris auslöste, zur Ikone der Tanzmoderne wurde. Bei ihrer Bearbeitung des Fauns von einer Rekonstruktion zu sprechen, verbietet sich daher. Ihre „Éclats“ im doppelten Wortsinn, indem sie den Eklat der Uraufführung zum Ausgangspunkt nehmen, um den Mythos aufzubrechen und die „Aufbrüche“ zu markieren, die Nijinskys radikales Tanzverständnis seither sowohl für Choreografen als auch für Tänzer ermöglichen.

Mit der Figur des Fauns, halb Tier, halb Mensch, betrat zum ersten Mal ein explizit sexualisierter männlicher Körper den Tanzboden in einer reliefartigen Komposition, die dem Raum die Tiefe nimmt und die Bewegung in bis in die Haltung der Finger hinein detailliert notierten Posen beinahe still stellt. Die Grenze zwischen Geste und Tanz wurde hinfällig. Einwärts gedrehte Beine waren vorher ein ebensolches Tabu wie eine Choreografie, die dem Duktus der Musik diametral entgegensteht. Nijinskys epochales Werk von nur knapp zehnminütiger Dauer verweigert dem Tanz all das, was das Ballett bis dato auszeichnete. Fünf namhafte Tänzer aus unterschiedlichen Bereichen betreten die Bühne in Alltagskleidung. Boris Charmatz, Emmanuelle Huynh, Jennifer Lacey, Jean-Christophe Paré und Loic Touzé erzählen von ihren persönlichen Erfahrungen und Ängsten als Tänzer, gehen zurück in ihre eigene Geschichte und erinnern sich an Rollen, die sie früher getanzt haben, während sich kleine mit Sprache versetzte improvisierte Duos und Trios entspinnen. Durch das fremde geschichtliche Moment von Nijinskys „Faune“ hindurch arbeiten sie sich zu sich selbst vor, zu ihren eigenen Motivationen zu tanzen und den Entscheidungen, die dies für sie impliziert.

Le Quatuor Albrecht Knust stellt Fragen. Fragen nach dem Status der Tanzgeschichte, die sich die Tänzer in einem Prozess der Erinnerungsarbeit körperlich wie intellektuell wieder aneignen, um sie nicht als totes Wissen zwischen zwei Buchdeckel gepresst der Historiografie zu überlassen. Fragen nach den Kräfteverhältnissen, die ein Werk durchzieht, den Produktions- und Distributionsgesetzen, denen das fertige Produkt unterliegt. Immer haben sie den Tänzerkörpern als Akt der Emanzipation zurückzugeben. 1993 von den vier gegründet, wendet sich das Quartett der Abriet an konstitutiven Momenten der Moderne zu. Ihr Namensgeber ist Albrecht Knust, ein Schüler Rudolf von Labans, der das Labansche Notationssystem entscheidend mitentwickelt hat, das ihnen als Ausgangpunkt für ihre Neuschöpfungen dient. Auf der Grundlage dieser Tanzschrift, in der Brun, Collod und Hecquet ausgebildet sind, entzifferten sie in ihrer ersten Produktion „Les danses de papier“ zwei Tänze von Doris Humphrey und Kurt Joos, bevor sie sich 1996 Yvonne Rainers „Continuous Project/Altered Daily“ aus dem Jahr 1970 sowie Steve Paxtons „Satisfyin’ Lover“ (1967) zuwandten. In der Auseinandersetzung mit jener radikalen Befragung des Tanzes und seiner gesellschaftlichen Implikationen durch die Judson Church Gruppe rührten sie auch an die Wurzeln ihres eigenen Schaffens, in dem eine künstlerische Praxis der gleichberechtigten Verteilung von Macht innerhalb wie im Zusammenhang von anderen Projekten außerhalb der Gruppe auch mit einer ethisch-gesellschaftlichen Praxis verbunden ist. Zwischen wissenschaftlicher Objektivierung, die eine semiotische Lektüre der Tanzschrift nahe legt, und ihrer Brechung durch die subjektiven einzigartigen Erfahrungen der Tänzer liegt die Spannung, die die Projekte von Le Quatuor Albrecht Knust auszeichnet.

Ihre dritte Produktion „... d’un Faune (éclats)“ ist ein inszenierter Diskurs über Nijinskys Faun, bei dem sie Schicht für Schicht seiner Entstehung abtragen wie Archäologen übereinander liegende Gesteinsschichten. So rückt nicht nur Nijinskys in einer eigenen Notationsschrift niedergelegte Partitur aus dem Jahr 1915, die Claudia Jeschke und Ann Hutchinson Guest in Laban-Notation übertragen haben, ins Zentrum des Interesses. Auch die unterschiedlichen musikalischen Instrumentierungen, die Claude Debussy von seinem „Prélude à l’après-midi d’un faune“ erstellt hat, die verschiedenen Entwicklungsstadien von Stéphane Mallarmés Gedicht sowie die sepia-getönten Fotos von Adolph de Meyer, die unsere Erinnerung an Nijinskys Stück entscheiden prägen, werden in die Untersuchung einbezogen. In der Pulverisierung des monolithischen Originals wird das Werk von seinem Schöpfer-Genie abgelöst und für mögliche neue Aufbrüche geöffnet. Am Ende wird „L’après-midi d’un faune“ ein Mal in seiner ganzen Länge getanzt. Je nach Vorstellung übernimmt ein anderer Tänzer die Rolle. Fast beiläufig und undramatisch wirkt die Präsentation, eher wie ein verdichteter Knotenpunkt aller vorangegangenen Erfahrungen, ein vorläufiges, tentativ gesetztes Ergebnis, das den Prozess der mehrfachen Aneignung keineswegs abschließt, sondern ihn dem Zuschauer übereignet. Denn was bedeutet die Radikalität Nijinskys für uns, wenn wir heute einer Tanzaufführung beiwohnen?

 

Spielort:
Volkstheater

Termine:
02. August 2000, 21:00