Der Highway hat viele Ausfahrten, 101 vielleicht – doch wer weiß, wie viele Meg Stuart mit ihrer Gruppe Damaged Goods auf ihrer Reise ansteuern wird. Als das Forschungsprojekt vor drei Jahren in Wien auf Einladung der Wiener Festwochen seinen Ausgang nahm, war noch vollkommen unklar, wohin die Reise gehen wird. Für drei Monate arbeitet die amerikanische Tänzerin und Choreografin Meg Stuart mit ihrer Gruppe Damaged Goods in den leergeräumten Emballagenhallen, um den Kern ihres Highway-Projekts vor Ort in einem offenen Prozess zu entwickeln. Schon im März hat Meg Stuart nach einer dreimonatigen Probenzeit und einer noch längeren Recherche, die sie unter anderem auch nach Lille zu Le Resnoy – Studio National des Arts Contemporains führte, einen kurzen Zwischenstopp im Brüsseler Kaaitheater eingelegt. Acht streng gerahmte und komponierte Bilder hat sie dort gezeigt, die das ganze Haus im Herzen Brüssels als Spielfläche nutzten, Stationen, an denen die Zuschauer bei ihrer Wanderung durch das Theatergebäude anhielten, um eine Auswahl an Bildern aus dem Fluss einer imaginären Landschaft näher betrachten zu können, die wie in einem fahrenden Auto auf der endlosen Straße an ihnen vorbeirauscht. Einmal blicken die Zuschauer von oben auf einen mit Sand bedeckten Glastisch, auf den Bilder von Körpern projiziert wurden. Zwei Tänzer fahren mit ihren Händen durch den Sand, lassen kleine Hügel entstehen oder legen den gläsernen Untergrund bloß, auf dem die Körper wie von Geisterhand plötzlich verschwinden. Mit jeder ihrer Bewegungen verformt sich der Körper, wird gedehnt oder gestaucht, als sei er grenzenlos manipulierbar.
In „Highway 101“ setzt Meg Stuart ihre Arbeit an Körperbildern fort, die sie 1991 mit „Disfigure Study“ begonnen hatte. In dem kurzen Stück, das sie schlagartig berühmt machte, zerstückelte sie mit präzisen Lichteinstellungen die Körper ihrer Tänzerinnen, um Bilder zu erzeugen, wie man sie im Tanz bis dahin noch nicht gesehen hatte. Von Ferne erinnerten sie an die Gemälde Francis Bacons: verformte Fleischblöcke, die ebenso von der Krise menschlicher Identität wie von unserer durch die elektronischen Medien veränderten Körperwahrnehmung erzählen. Mit nervösen Tics ausgestattet wie der Tänzer, der zu Beginn von „No Longer Ready-Made“ (1993) minutenlang bis zur physischen Erschöpfung orientierungslos den Kopf hin und her wirft, beharren Meg Stuarts Körper auf dem, was nicht vergessen werden kann, was obsessiv wiederkehrt, ohne dass es Geschichte werden könnte. Viel mehr als die Erinnerungen der Psyche interessieren sie die Erinnerungen der Körper, die hysterisiert und theatralisiert keine Geschichte im Sinne einer Handlung mehr erzählen, weil sie selbst Geschichte sind. Auf zwei Torsos, eine Vorder- und eine Rückenansicht, als sei ein Körper in der Mitte durchgeschnitten und aufgeklappt worden, hat sie Bilder und Muscheln geklebt, Spuren einer Vergangenheit, die der Körper auf der Haut trägt. Wie in „No One is Watching“ (1995) überprüft sie dabei unsere Haltung, beobachtet sie den Beobachter im Theatersessel, indem sie seinen Blick zurückgibt. Für ihre Reflexionen auf eine veränderte Wahrnehmung, die die schnellen Schnitte der neuen Bildmedien längst integriert hat, hat sie in bildenden Künstlern wie Gary Hill („Splayed Mind Out“, 1997) und Ann Hamilton („Appetite“, 1998) kongeniale Partner gefunden. Die immateriellen schwebenden Körper von Gary Hill im Dunkel des Raumes sind dabei nur die andere Seite von Ann Hamiltons wesentlich leichter und humorvoller wirkenden verformten Körpern: wie bei einer russischen Puppe stecken in den Kostümen wiederum Kostüme, die sich die Tänzer gegenseitig aus der Haut ziehen. In beiden Fällen ist der Körper immer schon mindestens doppelt. Damit stellt Meg Stuart, die in New York in Kontaktimprovisation und Release-Technik ausgebildet wurde, den abstrakten Körper der Moderne, dem es wie dem Körper Merce Cunninghams um die Erforschung von Bewegungsmöglichkeiten zu tun ist, wieder in einen Kontext. Sie ist ein subtiler Seismograf gesellschaftlicher Befindlichkeiten, der durch die extremen Körperbilder hindurch die Emotionen und den Intellekt der Zuschauer gleichermaßen anspricht und aufzeichnet.
Das Beobachten hat sie auch in ihrem Highway-Projekt zum zentralen Thema gemacht. Um die „Zukunft der Erinnerung“ geht es ihr hier, um die zunehmende Ununterscheidbarkeit zwischen eigenen und „fremden“ Erinnerungen die sich wie in einem Film überblenden. Das Reale und das Fiktive sind längst gleichermaßen wirklich, der Schmerz beim Hinfallen ebenso Teil einer Biografie wie die Seifenopern im Fernsehen. So sind die Filme, die sie zusammen mit Stefan Pucher, der für die Dramaturgie und die Szenografie verantwortlich zeichnet, entwickelt hat, stets aus der Perspektive einer Überwachungskamera gedreht. Ein unheimlicher Blick von außen fällt auf das Ich, den das Ich aber längst schon verinnerlicht hat. Die Erinnerungen an die Brüsseler Station des Highways nimmt Meg Stuart mit ihrem dreimonatigen Aufenthalt in Wien, wo sie zahlreiche neue, dem veränderten Ort entsprechende Bilder erfinden wird. Die Bilder entlang des Highway 101 sind in ständiger Bewegung. Die Erinnerung an sie wird permanent überprüft und befragt, seine Geschichte weitergeschrieben. Wer weiß, wohin der Highway 101, neben dem Meg Stuart in den USA ihre Kindheit verbrachte, sie in Zukunft noch führen wird.
Spielort:
Emballagenhallen
Termine:
14. Juli 2000, 21:00
15. Juli 2000, 21:00
16. Juli 2000, 21:00
18. Juli 2000, 21:00
19. Juli 2000, 21:00