Boris Charmatz ist Tänzer, Choreograf und Schöpfer experimenteller Projekte wie der ephemeren Schule Bocal, desMusée de la danse und Terrain. Er ist bestrebt, seine eigenen Fragestellungen mit dem Zustand zeitgenössischer Körper zu verknüpfen, sucht Tanz an ungewöhnlichen Orten und entwirft hybride Stücke und Formate, die Kreation und Repertoire, Theorie und Vermittlung in unterschiedlichsten Räumen vereinen.
Nach seiner Ausbildung an der Ballettschule der Pariser Oper und dem Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse de Lyon schrieb er 1993 gemeinsam mit Dimitri Chamblas sein erstes Stück, À bras-le-corps, ein Duett, das die beiden Tänzer seither aufführen und das 2017 in das Repertoire des Balletts der Pariser Oper aufgenommen wurde. Es folgten wegweisende Werke wie Aatt enen tionon (1996), Con forts fleuve (1999) und Levée des conflits (2010). Gleichzeitig arbeitete er als Performer und Improvisator mit Künstler*innen wie Odile Duboc, Médéric Collignon, Anne Teresa De Keersmaeker und Tino Sehgal.
Von 2009 bis 2018 leitete Boris Charmatz das Centre chorégraphique national de Rennes et de Bretagne. Dort gründete er das Musée de la danse, ein Paradox, das seine Dynamik aus eigenen Widersprüchen schöpft – ein experimenteller Raum, der bestehende Beziehungen zwischen Publikum, Kunst und ihren physischen und imaginären Territorien hinterfragt und umkehrt. Das Musée de la danse verband das Lebendige mit dem Reflexiven, Kunst mit Archiv, Kreation mit Vermittlung.
2011 war er assoziierter Künstler des Festival d’Avignon und kreierte enfant im Cour d’honneur des Palais des Papes – ein Stück für 26 Kinder und neun Tänzer*innen. Zudem präsentierte er Une école d’art pour le Festival d’Avignon.
2013 lud ihn das MoMA (Museum of Modern Art, New York) ein, wo er Musée de la danse: Three Collective Gestures inszenierte – ein dreiteiliges Projekt, das sich über das gesamte Museum erstreckte.
Nach einer ersten Einladung 2012 kehrte Boris Charmatz 2015 mit dem Projekt If Tate Modern was Musée de la danse? zur Tate Modern (London) zurück. Dieses umfasste neue Versionen von À bras-le-corps, Levée des conflits, manger, Roman Photo, expo zéro und 20 danseurs pour le XXe siècle. Im selben Jahr eröffnete er die Tanzsaison an der Opéra national de Paris mit 20 danseurs pour le XXe siècle und lud 20 Tänzer*innen des Balletts ein, Soli aus dem letzten Jahrhundert in den öffentlichen Räumen des Palais Garnier zu performen.
Im Mai 2015 präsentierte er in Rennes Fous de danse – eine Einladung, Tanz in all seinen Formen von Mittag bis Mitternacht zu erleben. Weitere Ausgaben dieser „choreografischen Versammlung“, die professionelle und Amateur-Tänzer*innen zusammenbringt, folgten in Rennes (2016, 2018) sowie in Brest, Paris (Festival d’Automne, 2017) und Berlin, wo er 2017–2018 assoziierter Künstler der Volksbühne war.
2016 entstand danse de nuit, eine nächtliche Performance für den urbanen Raum, 2017 10000 gestes, ein Stück für 24 Tänzer*innen. Ende 2018 verließ Boris Charmatz das Centre chorégraphique national de Rennes et de Bretagne und schuf am TNB La Ruée, eine kollektive Performance, inspiriert von dem Buch Histoire mondiale de la France (Eine Weltgeschichte Frankreichs) unter der Leitung von Patrick Boucheron.
Im Januar 2019 gründete er Terrain, eine Struktur mit Sitz in der Région Hauts-de-France, die choreografische Experimente ohne Wände oder Dächer entwickelt – eingebettet in Stadt und öffentlichen Raum. Im Sommer 2019 erhielt er Carte blanche vom Zürcher Theater Spektakel, um das Festivalgelände am Seeufer zu gestalten: terrain | Boris Charmatz: Un essai à ciel ouvert. Ein Tanzgrund für Zürich war der erste Test dieses Projekts. Drei Wochen lang konnten Besucher*innen täglich und bei jedem Wetter kollektive Warm-ups, Workshops, Performances und ein Symposium erleben.
2020–2021 widmete ihm das Festival d’Automne à Paris ein Portrait, das Werke aus seinem Repertoire mit neuen Kreationen vereinte: La Ruée, (untitled) (2000) von Tino Sehgal, La Fabrique (inklusive Session Poster, Ping Pong und J’ai failli), Aatt enen tionon, 20 danseurs pour le XXe siècle et plus encore, 10000 gestes, boléro 2 von Odile Duboc, étrangler le temps, sowie La Ronde, eine Kreation für das Grand Palais, inspiriert von Arthur Schnitzlers Text, und Happening Tempête zur Eröffnung des Grand Palais Ephémère. Im Juli 2021 eröffnete er das Manchester International Festival mit Sea Change, einer Performance auf der Straße mit 150 Amateur- und Profi-Tänzer*innen. Im November desselben Jahres entstand an der Opéra de Lille das Solo SOMNOLE, das mit dem Preis des Syndicat de la critique für die beste choreografische Aufführung ausgezeichnet wurde.
Im August 2022 wurde Boris Charmatz neuer Leiter des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Gemeinsam mit Terrain entwickelt er ein neues künstlerisches Projekt zwischen Deutschland und Frankreich, das seine choreografische Arbeit mit dem Repertoire von Pina Bausch verbindet. Er präsentierte mehrere öffentliche Veranstaltungen in Wuppertal, darunter Wundertal/Sonnborner Strasse auf einer Straße (2023) und CERCLES auf einem Fußballfeld (2024).
Im September 2023 kreierte er Liberté Cathédrale im Mariendom, einer brutalistischen Kirche in Neviges (Deutschland) – sein erstes Stück, das das Ensemble des Tanztheater Wuppertal mit Tänzer*innen von Terrain zusammenführte. Es wurde von der Zeitschrift TANZ als „Produktion des Jahres“ ausgezeichnet. 2024 war er Artiste Complice des 78. Festival d’Avignon, wo er CERCLES, einen öffentlichen Workshop, eine Open-Air-Version von Liberté Cathédrale sowie das Projekt Forever (Immersion dans Café Müller de Pina Bausch) präsentierte.
Boris Charmatz ist Autor mehrerer Bücher, darunter Entretenir/à propos d’une danse contemporaine (2003, mit Isabelle Launay) un Je suis une école (2009). Seine Arbeit wurde in Monografien bei MoMA (2017) und Alexander Verlag Berlin (2025) veröffentlicht.
2024